Bauformen Audiovisueller Selbst-Diskurse
1 Produktion und Zirkulation der Bilder
Wie ist die Auswahl („Kuratierung“) und Verbreitung („Zirkulation“) von Bewegtbildern, die außerhalb der künstlerischen und industriellen Produktion entstanden sind, aber sehr wohl durch die Geräteindustrie angeregt wurden, organisiert? Bevor diese Frage genauer formuliert werden kann, sollen einige wichtige Zäsuren der Geschichte audiovisueller Medien benannt werden:
Die Menge der alltäglich konsumierten Bilder ging mit einer Ausweitung der abgebildeten Sujets und Personen einher. Mit der Vermarktung der Kleinbildkamera waren Arbeiter und Angestellte schließlich in der Lage, diese Bilder selbst herzustellen – und sie für den meist privaten Gebrauch zu nutzen (vgl. Bourdieu/Boltanski 1981). Mit der Entwicklung von Super-8 und später dem elektronischen Camcorder hatte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die kinematografische Technik aus dem filmindustriellen Zusammenhang gelöst. Durch das Aufkommen digitaler Videotechnik in den 1990er Jahren (digital camcorder) sowie mit der Nutzung von ‚video hosting’. und ‚video sharing’-Diensten (z. B. YouTube, Vimeo, MySpace, Yahoo Video) wird es immer mehr Akteuren möglich, audiovisuelle Artefakte aufzunehmen, zu speichern, zu bearbeiten und zu verbreiten. Durch die Verbilligung der Anschaffung, die Vereinfachung der Handhabung und die Möglichkeit der Verbreitung ist also eine Herabsetzung der Zugangsschwelle und eine (relative) Verallgemeinerung des Zugangs zu diesen Techniken eingetreten. Die Bildproduktion in Form der Fotografie und des Videos gehört also seit beinahe einhundert Jahren zum Alltag. Allein der Zugang zu den Bildverbreitungsmedien konnte bis in die 1990er Jahre nur mühsam geschaffen werden: Druckerpresse, Fernsehanstalt und Film waren (und sind teilweise) große technische und bürokratische Apparate, die sich durch hohen Investitionsbedarf und eine Verberuflichung ihrer Akteure, also eine soziale Schließung auf vielen Ebenen, auszeichnen. Diese Schließung wurde von künstlerischen und politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts wiederholt kritisiert. Diese Kritik war – etwa in der do-it-yourself Bewegung – mit einer Aufwertung des Amateurs verbunden.
Das Aufkommen digitaler Bildmedien sowie die Mediatisierung des Alltags (Hepp 2010, Krotz 2007, Lundby 2009) durch das Internet haben den Zugang zu Verbreitungsmedien erleichtert und quantitativ verbreitert. Durch die Verallgemeinerung des Internets wurde es möglich, Digitalisate unterschiedlicher Form unterschiedslos zu verbreiten. Vermittelt durch eine internetgeprägte Text- und Bildproduktion kam es zu einer weiteren Aufwertung der Amateurproduktion, diesmal nicht primär durch die Kunst und durch soziale und politische Bewegungen, sondern durch ökonomische Akteure. Diese Aufwertung zeigt sich nicht zuletzt, dass in vielen kommerziellen Fernsehproduktionen heute die Ästhetik des Amateurvideos nachgeahmt wird. Beide Bildwelten und Produktionsweisen treten also in einen Austausch, der sich primär dadurch auszeichnet, dass das Amateurbild – als Medienformat, d.h. als bestimmte ästhetisch-technisch-kulturelle Formatierung – in die Zirkulation von content eingebracht wird. Mit dem Aufkommen von Videosharing Diensten wie youtube ist dieser Austausch zwischen Massenmedien und Individualmedien soweit eskaliert, dass in gewisser Weise eine Integration beider eingetreten ist. Auch die alltägliche Nutzung und kommerzielle Nutzung des Amateurbildes sind miteinander verflochten. Im Beitrag wird die Zirkulation von Amateurvideos zwischen individualmedialen und massenmedialen Dispositiven anhand dreier exemplarischer Fälle (Beispielvideo 1, 2, 3) untersucht. Dazu werden drei historisch aufeinanderfolgende „Bauformen“ audiovisueller Diskurse verglichen. Die drei gewählten Bauformen entsprechen drei typischen Stufen in der Zirkulation des Amateurbildes, die sich durch unterschiedliche soziale Figurationen und Formate auszeichnen.
2 Audiovisuelle Diskurse
In den Kultur- und Sozialwissenschaften wird das Bild im Zuge einer kritischen Revision des Sprach- und Textfokus qualitativer empirischer Zugänge zur Wirklichkeit berücksichtigt, also etwa als Teil der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. In der „visuellen Wissenssoziologie“ (Raab 2008) wird etwa der Fokus auf die Etablierung geteilten Wissens im Zuge visueller Praktiken und die Herausbildung von Sehgemeinschaften mit ihren partikularen und lokalen Schnittmustern gelegt. Ein anderer Zugang besteht in der Erweiterung ethnografischer Methoden, die als „Videointeraktionsanalyse“ bereits ausführlich begründet ist. Sie ist primär darauf ausgerichtet, durch die Forscherinnen selbst produzierte Daten einer Interpretation zugänglich zu machen.
Auch in der diskursanalytischen Forschung werden Bilder und Bewegtbilder zunehmend zum Forschungsgegenstand gemacht. Dies wird durch den Umstand erleichtert, das das Verhältnis des Sichtbaren zum Sagbaren bereits bei Foucault nicht zugunsten der Sprache vorentschieden war. Eine Bild-Diskursanalyse wird von Foucault gefordert, wenn auch empirisch nur an wenigen Stellen eingelöst: „Der Diskurs ist also nicht die gemeinsame Interpretationsgrundlage aller Erscheinungen einer Kultur. Eine Form erscheinen zu lassen, ist keine indirekte (subtilere oder auch naivere) Art, etwas zu sagen. Nicht alles, was die Menschen tun, ist letztlich ein entschlüsselbares Rauschen. Diskurs und Figur haben jeweils ihre eigene Seinsweise; aber sie unterhalten komplexe, verschachtelte Beziehungen. Ihr wechselseitiges Funktionieren gilt es zu beschreiben“ (Foucault 2001:795). Ausgehend von dieser Offenheit für das Bild wurden erste Schritte zu einer Bilddiskursanalyse bzw. einer Bild-Diskursanalyse unternommen. Diese Differenz ist für eine Diskursanalyse des Visuellen konstitutiv: Die Bilder weisen selbst, vor allem in den Medien und Mechanismen ihrer Reproduktion und Zirkulation, eine Art diskursive Ordnung auf; außerdem treten die Bilder in ein Verhältnis zu (sprachlichen) Diskursen ein, die sie beschreiben, kommentieren, auf- und abwerten. In dieser Perspektive ist es entscheidend, Bilder eben nicht als konstitutiv andere Sinnordnung gewissermaßen zu exotisieren (und damit den entsprechenden Spezialwissenschaften zu überlassen), sondern sie als Teil von Praxisordnungen zu begreifen, in denen Bilder eben längst neben anderen Medienformen verwendet werden. Denn, so Tom Holert, „heute [kann] Kritik an visuellen Diskursen und an den Diskursen über Visualität nur geübt werden, wenn man Bilder auf ihren Gebrauch und ihre Wirkungen, kurz: auf ihre Beteiligung an Praktiken der Willens- und Wissensbildung untersucht“ (Holert 2000:18).
Berücksichtigung finden müssen die „Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben“, bei denen es darum geht „eine andere Dimension des Diskurses zu bändigen: die des Ereignisses und des Zufalls“ (Foucault 1996). Wie also wird der Zufall und das Ereignishafte der audiovisuellen Aufzeichnung gebändigt, wer bekommt die Kontrolle darüber, wie viel und was und welcher „Ausschnitt“ der Wirklichkeit sichtbar gemacht wird? Darüber ‚entscheiden‘ nicht nur Akteure, obwohl diese im Rahmen einer wissenssoziologischen Diskursanalyse möglichst benannt werden sollten, sondern Diskurse als Ordnungen der Sichtbarkeit.
Der Fokus der folgenden Analysen liegt auf der Ordnung des audiovisuellen Diskurses, also auf der Verteilung von Sprecher- und Subjektpositionen und den sich daraus ergebenden Chancen zur Präsentation von Sichtbarkeiten gegenüber einem Publikum. Um diese Ordnung zu erschließen, müssen zunächst (hier noch provisorische) Begriffe für die medialen und technischen Besonderheiten der Produktion, Speicherung, Ausstrahlung und Rezeption der Videos gefunden werden. Diese Besonderheiten machen die Bauform eines audiovisuellen Diskurses aus.
3 Arbeitsteilung im Video-Diskurs
Die Praktiken der Video-Kommunikation und -produktion ruhen einer technisch-medialen Registratur auf. Sicht- und Hörbares wird in audiovisuellen Artefakten aufgezeichnet, gespeichert, bearbeitet (Post-Production), ausgewählt (Kuratierung) und verbreitet (Zirkulation). Eine der zentralen Positionen in der Teamarbeit der Videoproduktion ist die der Kuratierung.
Das im 17. Jahrhundert aus dem italienischen übernommene Prokura bedeutet ein Geschäft zu führen. Das Kuratorium ist hingegen ein Gremium, das den Betrieb einer Einrichtung überwacht. Kuratieren trägt also zunächst die überlieferte Bedeutung der wirtschaftlichen und rechtlichen Sorge um ein Geschäft oder eine wissenschaftliche oder staatliche Institution. Der Verantwortliche einer Sammlung oder einer ständigen Ausstellung eines Museums wird als Kurator bezeichnet. Kuratoren tragen Kunstgegenstände zusammen, um sie einem Publikum zu präsentieren – sie treten also zwischen Kunstproduzenten und Publikum. Die Tätigkeit des Kuratierens ist die Auswahl des Sehenswerten, Hörenswerten, Erfahrenswerten und ihre publikumswirksame Versammlung unter einer Adresse. Kuratoren und Kuratorinnen sind ‚Programmmacher‘; Sie sind zentraler Bestandteil der Programmindustrien (vgl. Stiegler 2009). Der Begriff der Kuratierung wird hier beliehen, um zu beschreiben, wer etwas durch in-Umlauf-bringen in eine Beziehung zu einem Publikum setzt.
4 Drei Bauformen audiovisueller Diskurse
Eine erste Kuratierungsweise und Bauform liegt mit dem deutschen Filmprojekt 'Deutschland Privat' vor, einer 1980 und wiederum 2007 im Kino ausgestrahlten Zusammenstellung von 'found footage'. Ein zweites Beispiel bildet das britische Videoprojekt 'Video Nation', bei dem BBC-Zuschauer sich selbst seit den 1990er Jahren videografisch aufnehmen. Thema des dritten Teils sind online-Videos.
Der Kameramann und Regisseur Robert van Ackeren hat 1979 Anzeigen geschaltet, in denen er dazu aufruft, ihm private Super 8 Filme zur Verfügung zu stellen. Aus ca. 200h Filmmaterial entsteht so „Deutschland Privat. Eine Anthologie des Volksfilms“, das 1980 erstmals in deutschen Kinos gezeigt wird. Die 2007 gezeigte Fortsetzung „Deutschland Privat. Im Land der bunten Träume“, zeigt neben den bereits in Teil 1 gezeigten home videos von Familienfeiern, Ausflügen und sonstigen geselligen Anlässen nun auch Amateur-Pornografie.
Der Film beginnt mit einem kinotypischen Vorspann, in dem zunächst die Lettern „Ein Robert van Ackeren Film“ eingeblendet werden, daraufhin der Titel „Deutschland Privat“ – schwarz-rot-gold eingefärbt. Der auf die Titelsequenz folgende Teil wird vom Zwischentitel „Versuche und Verhütung. Der Testfilm/der Aufklärungsspot“ eingeleitet. Daraufhin wird ein Filmbild eingeblendet, in dem vor einem grüngelben Hintergrund, dessen faserartige Texturierung sich in einer Tiefenunschärfe verliert, ein ovales Objekt in einer totalen Einstellung zu sehen ist, die sich nach einem Schnitt und der darauffolgenden Plansequenz als Detailaufnahme einer Blechmaus entpuppt. In dieser Sequenz spielt eine grauweiß gestreifte Katze mit langem Haar wiederum zunächst in totaler Einstellung mit einer Blechmaus. Die Maus fährt durch das Bild, von einer unsichtbaren Hand, bzw. vor der Aufnahme aufgezogen. Dieses Bild wird begleitet von einem Off-Sprecher, der in eigentümlicher, ‚launiger‘ Manier, die abgebildeten Gegenstände und den Protagonisten des Films, „Kater“, kommentiert. Der Text aus dem Off ist so gesprochen, als ob es sich um einen mündlichen Kommentar zum im privaten Rahmen gezeigten Film handelt, teilweise von den dargestellten Personen, teils von den Personen hinter der Kamera. Dargestellt ist in dieser Eingangssequenz also nicht der Filmamateur selbst, sondern ein Objekt, dass er ausgewählt hat und in Szene setzt.
Das für den Privaten oder Semi-Privaten Gebrauch (also etwa im Rahmen von im freundschaftlichen Kreis oder in Filmclubs) gedrehte Material wird in ‚Deutschland Privat‘ durch die Auswahl der Filme, ihre Anordnung in thematische Segmente und den Begleitkommentar kuratorisch aufbereitet. Die abgebildeten Personen haben keinen offenkundigen Einfluss auf diesen Produktionsprozess. Die ‚lost footage‘ wird dem potentiellen Zuschauer einerseits als möglicher Gegenstand eines ethnologischen Interesses angeboten, andererseits überwiegt eine komische Rahmung der Amateurfilme.
Der Off-Text ist vom Regisseur des Films, dies versteht der Zuschauer, als laufender Begleitkommentar zum nicht-vertonten Super 8 Material konzipiert, und zwar durchgehend aus der ersten Person – teilweise aus der (fiktiven) Retrospektive („Hier sehen wir meine Eltern bei einem Liebesurlaub“).
‚Deutschland Privat‘ kann als exemplarisch gelten für eine Phase visueller Kultur, in der audiovisuelle Massenmedien Kino und Fernsehen zwar keine Monopolstellung in der Filmproduktion einnehmen, aber die Verbreitungswege dominieren. Es gibt wenig Austausch zwischen den Massenmedien Fernsehen und Kino einerseits und dem Amateurfilm andererseits. Zwei getrennte Zirkulationswege führen zu zwei Bilddiskursen, die hier nur dadurch in Kontakt geraten, dass der Kurator van Ackeren (er ist hier nicht im eigentlichen Sinn Regisseur) die Super-8 Filme der Amateure sammelt, auf 32mm-Material überträgt und mit einer Kommentarstimme versieht. Die kuratorische Anordnung und Rahmung des Amateurvideos ist hier von einem exotisierenden und patriarchalen Gestus gekennzeichnet: Die Super-8-Amateure werden ‚vorgeführt‘. Sie werden aber einem Publikum vorgeführt, das vermutlich zu einem gewissen Teil selbst Super-8-Kameras besaß und möglicherweise heute Video benutzt, um ‚home videos‘ zu drehen. Den Anspruch, „Deutschland“ zu porträtieren sucht van Ackeren augenscheinlich dadurch einzulösen, dass eine Vielfalt an Altersgruppen, geografischen Bezügen (z.B. Amateurfilme aus der DDR) und Themen aneinandergefügt werden, so dass sich eine Art Mosaik-Effekt einstellt, in dem man ein volkskundliches Insgesamt von ‚Deutschland‘ erkennen mag. Die Videoamateure werden als kreativ dargestellt, ihre Bemühungen allerdings immer wieder implizit oder explizit als dilettantisch charakterisiert; die Vorherrschaft des Experten bleibt bei ‚Deutschland Privat‘ gewahrt. Der Beitrag des „Deutschland Privat“ Formats zur Genese der Gattungen des Internet-Video besteht möglicherweise darin, das Zeigen privater Innenräume „wie sie sind“ als legitim zu etablieren. Die gezeigten Filme zeichnen sich außerdem in der Mehrzahl durch einen ‚halbimprovisierten‘ Stil aus, der sich im Internet-Amateurvideo durchsetzen wird. Auffällig ist hier weiter, dass die Filmamateure eher selten selbst in Erscheinung treten. Sie rücken anstelle ihrer selbst, vielmehr ihre technischen Fähigkeiten und die Leistungsfähigkeit ihrer Kamera in den Vordergrund, wie bei der hier gezeigten Aufnahme einer gestreiften Katze, die, glauben wir van Ackerens Sprecherstimme, unter anderem dazu dient, die Kontrastschärfe des Objektivs darzustellen.
4.1 Video Nation: Empowerment und Kuratierung
„Video Nation“ ist ein Projekt, das 1993 durch die Community Program Unit der British Broadcasting Company durchgeführt wurde. Eine Gruppe von 50 Personen wurde ausgewählt, im Gebrauch von Camcordern unterwiesen und dazu aufgefordert, Ansichten ihres Lebens über ein Jahr hinweg aufzuzeichnen. Das Produktionsteam gewann aus den Aufnahmen Material für verschiedene Sendungen, die im Vorabendprogramm gesendet wurden. Die Amateure besaßen dabei eine Art Vetorecht, mit dem sie die Ausstrahlung von Material verhindern konnten. Im Jahr 2000 wurde das Programm beendet; aus dem existierenden Archiv wurde eine Webseite aufgebaut, für die mehrere hundert Personen Material beisteuerten. Auf der Webseite ist neben aktuellen Videobeiträgen ein Videoarchiv zugänglich, in dem die Videos in folgende Themengruppen geordnet sind: Age, Anger, Animals, Arts, Belief, Birth, Body, Celebrations, Childhood, Celebration, Community, Countryside, Crime, Death, Disability, Excitement, Fears, Food, Gardening, Happiness, Holidays, Home, Humour, Identity, Leisure, Media, Memories, Money, Music, Nature, Parenting, Pets, Relationships, Sadness, School, Seasons, Sport, Students, Teens, Transport, Values, Work. Das Video Nation Projekt wurde 2011 von der BBC beendet. Die Webseite ist nach wie vor als Archiv verfügbar. Nun zur Interpretation eines Videos, das ausgewählt wurde, weil es wie das vorhergehende im häuslichen Rahmen spielt und ebenfalls eine Katze im Mittelpunkt steht.
In der ersten Einstellung ist eine geklinkerte Wand mit Fenstern und Türen und einer Überdachung mit daran hängenden Blumenampeln zu sehen - es scheint sich um ein Haus zu handeln, dass der Betrachter im angelsächsischen Kontext leicht als ‚working class‘ erkennen kann. Das ganze Bild zittert leicht, was darauf hinweist, dass es mit einer Handkamera aufgenommen wurde. Ein rotes Trapez am rechten Bildrand (eine weitere Wand) lenkt den Blick zusammen mit einem grauen Streifen im Gras auf die Tür und ins Innere des Hauses. Es handelt sich um einen konventionellen ‚establishing shot‘. Dazu ist eine Stimme zu hören, die in einem Innenraum zu sprechen scheint, also dem Bild nachträglich hinzugefügt ist. Als nächste Einstellung ist ein Standbild einer Katze zu sehen. Die Stimme spricht über weitere Dinge (scales – Waage) und Personen („she“), die zunächst nicht zu sehen sind. Die Katze, nun auf einem weiteren Standbild zu sehen, wird mit ihrem Gewicht vorgestellt: 11,4 Kilogramm. Dann wird zur Sprecherin selbst geschnitten. Nach dem nächsten Schnitt ist die Sprecherin zu sehen, wie sie fortfährt zu sprechen. Sie ist vom oberen Teil der Schultern aufwärts zu sehen und vom umgebenden Zimmer eingerahmt, wodurch ihr Kopf im Bild eigentümlich klein wirkt. Die Wahl der Einstellung, der intensive Grünstich des Bildes und die verwirrende Linienführung legen nahe, dass es sich um die Aufnahme einer unerfahrenen Kameraperson handelt – möglicherweise die abgebildete Frau selbst – denn die Kamera steht in dieser Einstellung, so ist zu vermuten, auf einem Stativ. Auf der Ebene des Gesprochenen wird eine Problemdefinition artikuliert: Nach dem Wiegen der Katze durch eine Ärztin (die in einer späteren Einstellung gezeigt wird) ist klar: „We have a problem“. Die Katze ist zu dick. Die Katze hätte Magenprobleme, keuche schon beim Aufstehen, könne nicht allein aufs Bett springen. Bei einer Broschüre, die ins Bild gehalten wird, handelt es sich offenbar um eine Präventionsbroschüre für Katzengesundheit. Die Protagonistin zeigt, wie dick die Katze war, wie dick sie jetzt ist und wie sie werden soll. Zwischendurch wird noch ein Board mit einer großen Anzahl Porzellankatzen gezeigt, die, so muss man schließen, zur Inneneinrichtung der Protagonistin gehört. In beinahe allen Videos der Video Nation Serie wird der Wohnungseinrichtung der Protagonisten (Sende-)Zeit eingeräumt. Dies ist nicht zuletzt auf die Schulung der Amateure durch die BBC zurückzuführen, in der die Darstellung des eigenen Wohnumfeldes und der ‚community‘ einen großen Stellenwert hat. In einem Rückschnitt auf den talking head der Protagonistin erfahren wir, dass das Tier jetzt abgenommen habe. In einer letzten Einstellung sehen wir die Katze, wie sie jetzt aussieht. Sie steckt ihren Kopf in eine geöffnete Futterdose und wird von der Stimme der Protagonistin ermahnt: „Shouldn‘t have his head in a tin, should you? Mischief, No! Come on, fat boy!“
Nachdem der Erfolg der Katzendiät demonstriert wurde, wird die Katze beim ‚Naschen‘ gezeigt. Hier deutet sich eine Komplizität der Frau mit der Fresslust ihrer Katze an. Die letzte verbale Äußerung, die erst während des ‚Abspanns‘ zu hören ist (Come on, fat boy!), bestätigt diesen Eindruck. Dieses Ende hat somit einen komischen Charakter, der die pädagogische Ernsthaftigkeit des Gesamtfilms wieder abmildert, bzw. sogar umkehrt. Das Video weist eine einfache narrative Dramaturgie auf, die durch zahlreiche Video-Inserts (Stills der Katze, Szene bei der Tierärztin, Halsband) mehr illustriert als filmisch inszeniert wird: Problemdefinition, Intervention, Problemlösung, komische Coda.
Insgesamt weist das Video viele gattungstypische Elemente des Dokumentarfilmformats auf: talking heads, illustrierende Bilder, Voice-over, weicht aber andererseits davon ab: Die einzelnen Sequenzen sind sehr kurz, die Geschichte ist nicht komplex und multiperspektivisch, sondern linear erzählt. Das Video trägt auch Züge eines Lehrfilms: Nicht nur, dass diagnostische Prozeduren und pädagogische Materialien unmittelbar zur Ansicht kommen – die narrative Struktur: Problemdefinition, Lösungswege, und Bewältigung der Problemlage folgen dem Schema des Lehrfilms. Es handelt sich hier um ein thematisches und ästhetisches Ensemble, an dessen Konzipierung und Redaktion unterschiedliche Akteure – Experten und Amateure - beteiligt waren. Die Präsentation der Katze, so scheint es, überlässt die Protagonistin den problematisierenden Experten; der Schnitt ist vermutlich durch professionelle Cutter durchgeführt, während die talking-head Aufnahme durch die Amateurin selbst vorgenommen wird. Im Unterschied etwa zum Beispiel „Deutschland Privat“ hat die Amateurin hier offenbar weitgehend die Kontrolle über die thematische und ästhetische Ordnung des Videos, wobei aber auch Nachbearbeitungen stattgefunden haben.
Die Amateurin tritt in Video Nation als Produzentin (hinter der Kamera) und Protagonistin (vor der Kamera) in Erscheinung. Das narrative Schema der erbaulichen Lehrgeschichte tritt in den Video Nation Videos sehr häufig auf. Hier zeigt sich der bestimmende Einfluss der institutionellen Rahmung des Gesamtprojekts. In den Video Nation Clips erhalten Videoamateure erstmals die Gelegenheit, sich und ihre Sichtweise der Dinge relativ selbstbestimmt einem Fernsehpublikum zu präsentieren.
Dabei wird allerdings auch eine Regierungsweise etabliert, die darauf abzielt, das Wohlfahrtspotential einer Bevölkerung sichtbar zu machen und das Empowerment der Individuen der Britischen Bevölkerung zu begünstigen. Im Panorama des Video Nation Programms zeigen sich die Konturen einer post-traditionalen sozialen Ordnung, in der die Einzelnen in der Lage sind, sich mit den verfügbaren pädagogischen und kommunalen Ressourcen selbst zu helfen.
Die Video Nation Clips können als Vorläufer des Video-Blogs gelten. Anhand der Clips lassen sich einige der Gattungsmerkmale ablesen, die für verschiedene Typen von Internetvideos charakteristisch sind. Das ‚Selbst‘, das hier dargestellt wird, ist ein Dargestelltes und Darstellendes, ein sich selbst Abbildendes. Dieses auto-visuelle Selbst ist zudem ein lernfähiges, ein ‚beratenes Selbst‘, das sich als fähig und bereit zeigt, Expertenrat anzunehmen und die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Zugleich wird in der Schlusssequenz eine Art heimliche Gegenwehr deutlich: Denn hier tritt ein Begehren in Erscheinung, das sich dem Gesundheitsdiskurs zu entziehen scheint: Die Katze möge aus der Dose essen, dick bleiben und weiterhin der ‚fat boy‘ der auffällig mageren Protagonistin bleiben. An dieser Konstellation von Hauptnarration und Ende zeigt sich eine grundlegende Vieldeutigkeit des Videos, die sich durch Konvergenzen und Divergenzen von Narration, Bild und Sound anzeigt.
Mitte der 1990er Jahre entstanden die ersten ‚Online video hosting‘ und ‚online video-sharing‘ Dienste – sie sollten dem Amateurvideo eine bislang ungebrochene kulturelle Konjunktur sichern. Hosting bezeichnet die zentrale Speicherung von komprimierten Videodaten und die Zugänglichmachung dieser Daten für ein Publikum, das diese Videodateien üblicherweise ohne Bezahlung auf einem PC oder (heute) einem mobilen Gerät abspielen kann. Video ‚sharing‘ meint dann das Teilen von Videos zwischen Nutzern, was nicht unbedingt Video zentrales hosting voraussetzt. Es gibt ebenfalls seit den 1990er Jahren peer-to-peer Techniken, bei denen Daten verschiedener Art direkt zwischen Nutzern ausgetauscht werden. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Protokolle entwickelt, die sich aber gegenüber den Mitte der 1990er Jahre entstandenen Video hosting Plattformen nicht durchsetzen konnten.
Mit dem online Video hosting hat sich das Verhältnis zwischen Verbreitungsmedium, Video und Publikum grundlegend verändert. Online Video hosting Dienste stellen die Infrastruktur für die Speicherung und den Abruf von Videos bereit, außerdem ein grafisches Interface für die Rahmung der Inhalte, d.h. zur Darstellung von sogenannten Metadaten. Dieses Interface dient einerseits dazu, die Datenbanken mit gespeicherten Videos durchsuchbar zu machen und andererseits, die einzelnen Videos mit Metadaten (Name des Hochladenden, Datum, Titel, Tags, etc.) zu versehen und diese Metadaten beim Aufrufen des Videos abzubilden. An die Stelle der zeitlichen Programmstruktur des Kinos und des Fernsehen tritt eine räumliche Darstellung der abrufbaren Inhalte. Die grafische Gestaltung und die grundlegende Datenstruktur werden von den Hosting-Unternehmen programmiert, während die Amateure für den Inhalt und seine Annoncierung verantwortlich sind.
Im dritten exemplarischen Video, das 2010 auf der Videohosting-Seite youtube eingestellt wurde, ist ein etwa 20-jähriger Mann in naher Einstellung zu sehen. Er trägt eine Sonnenbrille, seine schwarzen Haare sind in einer Gelfrisur nach oben gekämmt. Ein feiner schwarzer Pullover ist unter einem blauen Hemdkragen zu sehen. Das Video trägt den Titel „GOOD HAIR DAY!! Ghd Review :)“. Das Video verspricht also ein „review“, die online-Bezeichnung für eine Warenrezension. Eine zweite Beschriftung des Videos lautet „HerrTutorial“. Diese Angabe ist nicht weiter beschrieben; es wird davon ausgegangen, dass bekannt ist, dass jedes Video von einem bei youtube angemeldeten Nutzer veröffentlicht, bzw. ‚hochgeladen‘ ist, und dass klar ist, dass eine Person – oder ein Kollektiv? – mit dem Kunstnamen HerrTutorial dieses Video hergestellt hat. Im Bildhintergrund ist ein Zimmer zu sehen, an dessen hinterer Wand eine Schreibtischgarnitur im Design von Jugenzimmern der 1990er Jahre steht. Auf der linken Bildseite ist eine (Schrank-)Wand aus demselben Holzfurnier zu sehen. Insgesamt ist die Eingangseinstellung als „Blogger-Zimmer“ zu erkennen, also als typische visuelle Rahmung von Video-Amateurproduzenten, die sich selbst in den Mittelpunkt ihrer Produktion stellen. Der Bloggerhintergrund ist ein typisches Stilmittel, ein Emblem des Amateurs.
Herr Tutorial fängt unmittelbar zu Beginn des Clips laut zu sprechen an und spricht dabei direkt in die Kamera: „O mein Gott ich kanns nicht glauben Leute die Sonne scheint wieder es wird endlich mal wieder gscheites Wetter und endlich ka ma wieder Sonnenbrille anziehen.“ Dieser unvermittelte Einstieg richtet sich, das versteht der Zuschauer, an ein Publikum, das bereits weiß, wer da spricht, und dass HerrTutorial für sich einen Status beansprucht, der keine weitere Einführung erfordert. Zum Einstieg wird das allgemeinste aller Themen gewählt: das Wetter. Die Sonnenbrille verbindet das Wetter mit seinem Erscheinungsbild auf dem Bildschirm des Zuschauers. Die Zentralität seines Torsos im Bild wird durch die sprachliche Selbstadressierung verdoppelt. Er ist zu sehen, er spricht über das Wetter und seine Sonnebrille. Seine ganze Rede ist von einer rhythmischen Akzentuierung durch Schultern und Oberkörper begleitet, die in eine Jubelgeste übergeht. Dann folgt ein typischer Blogger-Schnitt, also ein Schnitt in dieselbe Einstellung mit leicht verschobenem Darsteller. Nach dem Schnitt ist HerrTutorial ohne Brille zu sehen, die stopptrick-artig von seiner Nase verschwindet, indem er den Arm auffordernd zur Kamera hin ausstreckt. Diese von ihm erzeugte visuelle Attraktion leitet die verbal vorgebrachte Aufforderung ein, das Video mit „fünf Sternen“ zu bewerten. Die Verwendung solcher Stilmittel verweist auf die Nähe vieler Amateurvideos zum frühen ‚cinema of attraction‘ (Gunning 1986). Ramon Reichert weist darauf hin, dass im youtube-Amateurvideos frühe Filmtechniken zur Anwendung kommen, wie etwa das Zeigen von Objekten durch An-die-Linse-führen. Diese Eigenwerbung wird durch die nächste starke Geste ironisiert, die emblematischen zwei hochgehaltenen Daumen in Verbindung mit der Imitation eines wiederum emblematischen Kassengeräuschs („Katsching“). Herr Tutorial macht deutlich, dass ihm bewusst ist, dass es hier um seinen eigenen Nutzen geht; er gesteht das gewissermaßen augenzwinkernd mit dieser hyperbolischen Geste ein.
Herr Tutorial weist darauf hin, dass, bevor er mit dem „folgende[n] Video“ anfängt, noch etwas passieren soll. Diese Äußerung zeigt an, dass das Gesehene noch nicht das eigentliche Video darstellt, sondern eine Art Einleitung, Prolog, oder eine Art ‚Anmoderation‘. Er moderiert sein eigenes Video an – nachdem es bereits durch die textuellen Elemente der grafischen Oberfläche angekündigt wurde. Er zögert das angekündigte Video, bei dem es sich um einen Warentest handelt („review“), hinaus, indem er mitteilt, dass er auf Zuschauerwünsche („aufgrund von eurer Anfrage“) reagiere, wenn er eine Katze zeigt („Ihr wolltet sie mal wieder sehen im Video“). Damit wird der Produktionsprozess thematisiert und zugleich eine Beziehung zu seinem Publikum hergestellt. Die als Tipsy vorgestellte Katze wird nun aus dem Off in die Einstellung gehoben. Der diese Aktion begleitende Monolog verweist wiederum auf Zuschauer, die Tipsy schon öfter gesehen haben. Damit wird verbal und zeigend ein Publikum konstruiert, das an Herr Tutorials Beiträgen seit längerer Zeit Anteil nimmt. Das Animieren der Katze kann wie ohnehin das ‚Zeigen‘ der Katze als Comedy-Element verstanden werden, etwa als Imitation eines Bauchredners, der die Katze antworten macht. Nach der Katzen-Episode geht Herr Tutorial dazu über, sein Publikum explizit zu animieren, Reaktionen auf eine von ihm gestellte Video-Frage an ihn zu schicken. Die Katzendarstellung steht hier anders als bei Deutschland Privat und Video Nation nicht thematisch im Vordergrund. Die Katze wird hier ins Bild geholt als Dramatisierung der Beziehung zwischen dem Darsteller und seinem Publikum.
Die beschriebene halbe Minute des insgesamt 8-minütigen Clips soll genügen, im Vergleich zu den anderen Clips (Deutschland Privat und Video Nation) wesentliche strukturelle Merkmale des Online-Amateurclips darzustellen. Anhand der knappen Beschreibung des Ausschnitts fallen, noch ohne zu vergleichen, einige Besonderheiten auf: Der Protagonist bedient sich mit dem direkten Blick in die Kamera und der launigen Ansprache des Publikums der Ästhetik des Fernsehens, für das verschiedene Formate des ‚hostings‘ charakteristisch sind. Sendungen werden von Moderatoren und Show-“hosts“ Begleitet und strukturiert. Diese hosts sprechen meist vor einem - zum Zeitpunkt der Aufzeichnung der Sendung (oder zum Zeitpunkt des Sendens) - ‚Live-Publikum‘, wenden sich mit dem Gesicht allerdings vor allem dem Fernsehpublikum zu. Im Unterschied zum Fernsehsender, der ein Publikum voraussetzt und direkte Ansprachen meist nur in der Moderation des Programms zulässt, spricht Herr Tutorial sein Publikum während der gesamten Aufnahme an. Teil dieser Ansprache sind auch Aufforderungen zur Mitwirkung und Kommentierung der Sendung, die beim Fernsehen nur als extrem asynchrone Zuschauerpost oder nach 1969 (Lichttest-Verfahren) bzw. 1979 (TED) zwar zeitlich dynamischer, aber dafür nur quantitativ möglich war. Diese Partizipationsmöglichkeiten stehen bekanntlich im Mittelpunkt des Netzdiskurses seit 2000 („Web 2.0“, „Social Media“). Die technisch ermöglichten Mitwirkungsoptionen (Kommentare, Antwortvideos) des Publikums werden von Herrn Tutorial genutzt, um sein Programm (bzw. seinen „Kanal“ bei Youtube) aus der Menge selbst produzierter Videos hervorzuheben. Die ins Bild geholten Dinge und Tiere dienen der Symbolisierung der Beziehung zwischen dem Darsteller und seinem Publikum; sie sind weniger Vehikel einer Identitätspolitik, die im Beispiel der Katzenthematisierung im Video Nation-Beispiel zum tragen kommt.
Herr Tutorial ist sein eigener Kurator, er übernimmt die Rolle der Moderation der ‚Sendung‘, indem er sich selbst („mein Video“) ankündigt, er steuert selbst Sehenswürdigkeiten und Gäste bei – etwa seine Katze, ein andermal beispielsweise seine Schwester. Auch die Aufgabe der Werbung für seine Sendung, die hier „channel“ heißt übernimmt Herr Tutorial, wenn er sein Publikum auffordert, seinen channel zu abonnieren und (positiv) zu bewerten. Es gibt keinen Sprecher aus dem Off oder Out – alle produktionsrelevanten Rollen werden von ihm selbst übernommen. Youtube ist nur im Hintergrund tätig, als Anbieter der Infrastruktur der Selbstkuratierung. Diese Infrastruktur hat allerdings Auswirkungen für die Gattung: Die ‚Rahmung‘ der Darstellung, also die Einführung des Themas, des Anlasses und der Hauptpersonen wird nicht von einer Programmzeitschrift erledigt, sondern muss vom Betreiber des Channels mit Hilfe der grafischen Möglichkeiten der Benutzeroberfläche und der Möglichkeiten der Selbstdarstellung im Video geleistet werden.
5 Fazit: Selbstkuratierung und ‚Soziale Medien‘
Drei Formate der Selbstthematisierung im Amateurfilm bzw. Amateurvideo wurden innerdiegetisch, d.h. anhand ihrer Bildhandlung, sowie in ihrer Einbettung in Produktions- und Distributionssysteme untersucht. Mit der Verbindung dieser zwei Analyseebenen war die Ausgangsannahme verubunden, dass sich eine bestimmte Produktionsordnung auch in der (audio-)visuellen Gestalt objektiviert. Diese Vermutung hat sich bestätigt. Das Verhältnis von Erzähler und Erzähltem, die Kadrage (Einstellungsgrößen) und Montage, sowie die Struktur der Bildnarration korreliert mit den jeweiligen Konstellationen von Produktions und Distribution. Da es sich bei den hier gewählten Beispielen nicht um ein zufälliges in-Distribution-geraten von Amateur-footage handelt, sondern um eine planmäßige Einrichtung der Distribution (in allen drei Beispielen) und der Produktion (in den letzten beiden Beispielen) handelt, ist es sinnvoll, von Bauformen audiovisueller Diskurse zu sprechen. Alternativ könnte auch der Begriff des Dispositivs verwendet werden, mit dem das Zusammenwirken der technischen Einrichtungen, räumlichen und sozialräumlichen Voraussetzungen sowie der notwendigen Wissensbestände betont würde, um die Voraussetzungen einer spezifischen Produktionsordnung als notwendige Bedingungen ihres Ergebnisses zu rekonstruieren. Bei den Analysen stand allerdings die Frage im Vordergrund, inwiefern einer bestimmten Akteursposition, nämlich die der Kuratierung, in unterschiedlichen Einrichtung einer Zirkulation von Amateurvideos zwischen individualmedialen und massenmedialen Kontexten eine Schlüsselposition zukommt. Die technisch-institutionellen Voraussetzungen sind für diese Akteursposition als gegeben: Kino, Fernsehen und das Internet finden die Kuratorinnen und Kuratoren bereits vor; sie ‚bauen‘ die Formate und entwerfen Zirkulationsmöglichkeiten und mögliche Publika für die Artefakte (Filme, Video). Der audiovisuelle Diskurs mit seiner Verteilung von Sprecher- und Subjektpositionen und den sich daraus ergebenden Zugangschancen zu einem Publikum konnte dadurch als Ergebnis einer Ko-Konstruktion der Bauformen durch Kuratorinnen in Wechselwirkung mit den technischen Voraussetzungen sowie mit der Selbstdarstellung von Amateuren beschrieben werden. Dabei wurde deutlich, dass die Verteilung von Akteurspositionen (bzw. traditioneller: Rollen), insbesondere die Wahrnehmung von Positionen in ‚Personalunion‘ entscheidende Bedeutung für die Zirkulation der Bilder als auch für die Sichtbarkeiten in den ‚social media‘ hat.
Die Sozial- und Mediengeschichte des Amateurvideos – soviel sollte deutlich geworden sein – hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Wendung genommen: Die differenzierten Arbeitsteilungen des Films und Fernsehens bleiben bestehen, während das Amateurvideo mit Video-sharing Zugang zu einer quasi-massenmedialen Verbreitung gefunden hat und dabei – im Prozeß der Videoproduktion – auf Grundlage einer äußerst primitiven Arbeitsteilung operiert: alle Aufgaben werden von einer Person, oder zumindest einer sehr kleinen Gruppen von Personen übernommen. Videoamateure im Netz sind charakteristischerweise Kuratoren, Kameramann/-frau, und Darsteller in einer Person. Sie moderieren ihre eigenen Sendungen, sind aber auch Objekte des Schauenswerden belohnt oder abgestraft. Sie sind Darsteller und Produzenten zugleich. Sie führen sie souverän durch Sendungen, wissen aber auch Zufällen und Störungen umzugehen, entweder durch Montage oder Improvisation. Zugleich sind sie an komplexe Distributionsapparate der ‚social media‘ angeschlossen („youtube“, „Vimeo“, „Dailymotion“ etc.), die selbst umfangreiche Steuerungs- und Kuratierungsfunktionen wahrnehmen, die aber weitgehend im Dunkeln bleiben. Sie sind an drei Typen des Kuratierens beteiligt:
Mikro-Kuratierung: Amateure sammeln eigene Videos, found footage und Schnipsel massenmedialer Produktionen und präsentieren sie einer Öffentlichkeit. Diese Mikro-Kuratierung fand zunächst nur themenbezogen statt, d.h. die ‚uploader‘ konnten selbst gedrehtes oder gefundenes Videomaterial mit Metadaten versehen (Titel des Videos, Kommentar etc.) auf die online-sharing Plattform stellen. Durch die Einrichtung personalisierter ‚Kanäle‘ („Channel“) – in Analogie zu Fernsehkanälen – ist wird diese Praxis deutlicher mit den Namen (Eigenname oder Pseudonyme) der Amateure in Verbindung gebracht, so dass sie als Kuratoren tatsächlich in Erscheinung treten können. Diese Struktur regt viele Amateure an, unterschiedliche Kanäle einzurichten und sich so als Kuratoren unterschiedlicher Themen zu annoncieren.
Selbst-Kuratierung: Amateure präsentieren sich selbst mit einem Portfolio an Darstellungsmöglichkeiten und Kompetenzen. Strukturell besteht die Selbst-Kuratierung in einer Gleichzeitigkeit von Kuratierung und Selbstdarstellung. Die Mikro-Kuratierung (die sich für sehr erfolgreiche Videoproduzenten graduell auf eine Meso-Ebene ausweitet, d.h. selbst zur Institution wird) überschneidet sich mit der Selbst-Kuratierung. Auf diese Weise ist es möglich, sich selbst bzw. die eigene Erscheinung zum Produkt oder zu einem Kunstprodukt zu machen. Strukturell induzierte und individuell vollzogene Kommodifierungs- und Ästhetisierungsprozesse, also Anlehnungen an die Warenästhetik oder die künstlerischen Ästhetiken haben ihren Ausgangspunkt in dieser Dynamik von Selbstzuschreibung und Artefaktproduktion: wenn es nötig wird, das eigene Selbst als Bezugspunkt der Neugier anderer aus der Distanz zu etablieren, wird das eigenen Leben zur Ware oder zum Kunstwerk.
Sub-Kuratierung und Ko-Kuratierung: Die Videoamateure tragen zu den Kuratierungsstrategien der Medienunternehmen bei. Sie tun dies auf verschiedene Weise: sie stellen durch Miko-Kuratierungspraktiken Material zur Verfügung, das aggregiert überhaupt erst das Archiv der online-Plattformen entstehen lässt. Sie bestätigen durch ihre bloße Beteiligung den Diskurs der Interaktivität, der das Versprechen auf Partizipation („broadcast yourself“) plausibilisiert. Wenn die Thesaurierung der Online-Plattformen – d.h. die Unterteilung in unterschiedliche Themengebiete – zur Grundlage der thematischen Rahmung der Produktion wird, kann ebenfalls von Sub-kuratierung gesprochen werden.
Videoamateure werden damit zu Sub-Kuratoren, deren Arbeitsverhältnis dem von Sub-Unternehmern ähnelt, insbesondere, wenn die Amateure, etwa als ‚youtube-Partner‘, an den (Werbe-)Einnahmen beteiligt werden. Die Subkuratierung geht in Ko-Kuratierung oder relativ unabhängige Kuratierungen über, wenn die Amateurproduzentinnen die Strukturen der Distribution und des Interaktivitäts-Diskurses bei ihrer Produktion berücksichtigen. Das kann auf sehr unterschiedliche Weisen geschehen, die an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden können.
Die Amateure orientieren sich – zustimmend, ablehnend oder strategisch – an den Kategorien, die eine Kuratierung wertvoll, verwertbar oder anschlussfähig machen und gewinnen damit Kommunikationsmacht (Reichertz 2009) und Handlungsfähigkeit in sich überschneidenden ‚Sehgemeinschaften‘ (Raab 2008). Damit werden sie allerdings auch zum Zielpunkt der Inwertsetzungsstrategien der Internet-Ökonomie, scheinbar ohne dass ihre eigene Agency betroffen wäre. In der Reproduktion einer ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ (Rancière 2006) also einer institutionalisierten, konventionalisierten Verknüpfung von Personengruppen, Themen und Darstellungsformen zeichnen sich Formen eines Regierens im Raum der Bilder und durch Bilder ab (vgl. Holert 2008). Zugleich sind die Amateure unter bestimmten, weiter zu erforschenden Bedingungen in den Stand gesetzt, sich gegenüber den berufsmäßigen Kuratoren zu behaupten und eigenständige Produktionsweisen und Ästhetiken zu entwickeln.