Körperpolitiken im Netz
Das Internet verbindet zwei Funktion, die es zum Medium politischer Artikulation werden lassen: Die Chance auf Publizität und das Kommunizieren mit Bildern. Der arabische Frühling hat gezeigt, dass die Veröffentlichung – an den staatlichen und privaten Medienanstalten vorbei – nicht nur durch ihren Vernetzungseffekt relevant ist, sondern durch die Möglichkeit der Dokumentation von Ereignissen.
Die Verbindung von Dokumentation und Selbstpublikation ist aber nicht nur für die großflächigen Umwälzungen, die ganze Staatsgebilde betreffen relevant. Sie hat auch neue Felder politischen Handelns aufkommen lassen und Bestehende revitalisiert.
Dies gilt auch für zwei soziale Bewegungen, die Körperwissen und Körperpolitik adressieren:
Pro-Ana und Fat-Acceptance. Die Fat Acceptance-Bewegung setzt sich seit den 1960er Jahren, vermittelt durch das Aufkommen von community radio, für die Akzeptanz und Rechte von Menschen ein, die dicker sind als Modeexperten, Ärzte und nicht zuletzt ein von diesem Expertenwissen informierter Alltagsverstand es für richtig halten, die also als ‚übergewichtig‘ oder ‚fettleibig‘ (bzw. ‚adipös‘) bezeichnet werden.
Die Pro-Ana-Aktivistinnen haben sich dagegen erst mit dem Vernetzungsmedium Internet zusammengefunden. Sie eignen sich schon mit ihrem Namen die medizinische Definition an, mit der sie belegt werden: Anorexia Nervosa. Entgegen dem medizinischen Wissen, in dem Magersucht als behandlungsbedürftige Krankheit gilt, sprechen sich die Aktivistinnen für ein Leben mit der bzw. für die Magersucht aus. Beide Gruppen sind jeweils mit einem Diskurs konfrontiert sind, der ihre Körperformen pathologisiert: sie unterliegen Bestimmungsversuchen und Interventionen der Medizin und der Modeindustrie.
Beide Gruppen organisieren eine öffentliche Thematisierung ihrer Körper, und zwar in Form eines Diskurses, mit dem eine Stellungnahme gegenüber – und teilweise innerhalb – den hegemonialen Diskurspositionen bezogen wird. Die Besonderheit dieses Gegendiskurses, die im Mittelpunkt des Beitrags steht, ist seine multi-Medialität, also die Verbindung von textuellen und bildlichen Selbstthematisierungen im Netzmedium. Die Spezialdiskurse, welche die Anorexia und die Adipositas zum Gegenstand haben, sind dagegen wesentlich sprachlich und arithmetisch verfasst und institutionell befestigt.
Die Aktivistinnen bedienen sich für ihre Selbstthematisierung aus einem historisch gewachsenen Reservoir affektiver Ausdrucksgestalten, emblematischer Gestiken, Mimiken und Körperposen, das sich aus der visuellen politischen Rhetorik, der Modefotografie, der anatomischen Fotografie, dem Selbstporträt und aus anderen Quellen des Bildwissens speist. Die variierende Bezugnahme auf solch ein Reservoir bezeichnen wir mit dem Kunsthistoriker Aby Warburg als ein Aufgreifen von „Pathosformeln“ (Warburg 2010: 31ff).1 Die Fat-Acceptance-Aktivistinnen greifen vor allem Pathosformeln (Warburg 2010) der starken Frau auf (vgl. auch 1, 2, 3, 4, 5), wohingegen die Pro-Ana-Aktivistinnen verstärkt anatomische und Modefotografien verwenden (vgl. auch 1, 2, 3, 4, 5). Diese affektiv geladenen Bildvorräte werden aufgegriffen und reaktualisiert, um die Bedeutung des dickeren bzw. dünnen Körpers zu rekodieren.
Die der Untersuchung zugrundeliegende These lautet, dass Strategien der visuellen Selbstdarstellung in internetgestützten Publikations- und Kommunikationsforen dazu beitragen, neue Formen von Öffentlichkeit herzustellen und diskursive Wissensbestände zu transformieren. Um dies zu zeigen, haben wir die Formen der textuellen und visuellen Darstellungen gesammelt und interpretiert, mit denen die Protagonistinnen dieser Bewegungen die Affekte und Wissensbestände thematisieren, die sie durch ihre Erscheinung hervorrufen bzw. aufrufen. Es zeigte sich, dass die Verbindung von Fotografien und Texten, die auf kollaborativen Internet-Blogs zu beobachten ist und Körperwissen der Aktivistinnen unter den Bedingungen affektiver Öffentlichkeiten inszeniert.
Unter affektiven Öffentlichkeiten verstehen wir Netzöffentlichkeiten, die einen synästhetischen Charakter aufweisen, in denen also Texte, Bilder und Ton neben- und miteinander auftreten und sich zu Aussageformationen verdichten. Die Faltungen von Text, Bild und Ton begünstigen dabei jene Mischung von Privatem und Öffentlichem, wie sie für „persönliche Öffentlichkeiten“ (Schmidt 2009) charakteristisch sind. Die visuellen Praktiken initiieren ein Wechselspiel von Argumentation und Performanz als Serie fortlaufender Verweisungen und Bezugnahmen auf Pathosformeln, durch die sich soziale Bedeutungen und historische Einschreibungen übereinanderschieben und veruneindeutigen (Engel 2009). Durch eine performative Kombination von Formen der Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Spürbarkeit (vgl. Halberstam 1998, Klein 2005, Funken 2005) werden affektive Öffentlichkeiten konstituiert, die komplexe politische und epistemische Problematisierungen ermöglichen.
Die Untersuchung von 'Fat-Acceptance' und 'Pro Ana' zeigt, dass beide soziale Bewegungen erfolgreich darin sind, den Objektivitätsanspruch institutioneller Wissensbestände und Darstellungsnormen herauszufordern und alternative Wissensformen und Wahrnehmungsweisen zu etablieren, jedoch mit unterschiedlicher Reichweite. Denn, so erbrachte der durchgeführte Vergleich der Bilder und Kommentare der „Pro-Ana“ und „Fat Activism“-Bewegungen, bedingen die kommunikativen Strategien, aber auch die jeweiligen Institutionalisierungsgrade die Form und den Erfolg des ‚visuellen Aktivismus‘. So gelingt den Akteurinnen der FA-Bewegung, indem sie sich z.B. auf den anti-obesity-skeptischen Zweig medizinischer Forschung und die Plus-Size Mode beziehen können, eine Infragestellung von Körpernormen, die aus den Internet-Teilöffentlichkeiten in die Modemagazine und ins Feuilleton hineinreicht. Ganz anders verhält es sich bei den Pro-Anas. Es gelingt Ihnen kaum, die Anorexia nervosa in einer allgemeinen Öffentlichkeit als eine mögliche Art der Lebensführung zu etablieren oder sie als Widerständigkeit gegen Familienverhältnisse und gesellschaftliche Verhältnisse darzustellen. Im Gegenteil, die Webpräsenzen der Pro-Anas werden repressiv zurückgedrängt.
Eine ausführliche Darstellung erscheint demnächst in der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie: Boris Traue und Anja Schünzel (im Druck): Visueller Aktivismus und affektive Öffentlichkeiten: Die Inszenierung von Körperwissen in 'Pro-Ana' und 'Fat acceptance'-Blogs. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie.
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Warburgs Methode – die als wissenssoziologische Bilddiskursanalyse avant la lettre gelten kann – besteht in einer intertextuellen und intermedialen Zusammenschau von Gemälden, Texten und theatraler Aufführung. ↩